Das Askland - mit Klauen und Fängen für das Rudel
  Tyra Brynjarsdottir
 

Tyra Brynjarsdottir

 

Ulfgodderen hilsen, Außenweltler!

 

Ich bin Tyra, die älteste Tochter des Runmerers Brynjar Einarson und seiner Frau, der Iduskin Sunna Gangolfsdottir. Wir leben in Svartaskheim, einem Ort auf der Hoegerklov, der das Zuhause von gut 250 Asken ist, und sich diverse Wolfslängen von den Zwillingsstädten Isenheim und Isenberg entfernt befindet. Im Laufe der Zeit habe ich bereits einen Großteil meiner wunderschönen Heimat, die aus drei Inseln besteht, bereist, und immer bin ich gern zum Langhaus meiner Blodkin zurückgekehrt.

Ich habe drei ältere Brüder und einen jüngeren, ihre Namen sind Ragnar, Hildebrandt, Gerolf und Dankrad, sowie zwei noch jüngere Schwestern, Fehild und Runa. Meine älteren Brüder haben schon vor einigen Jahren einen eigenen Hausstand gegründet, und auch um meine nächstjüngere Schwester gab es einige Bewerber, von denen schließlich einer gegen Vater bestand. Er ist ein Hatoske, ein Mann des Handwerks, und als Schmied in unserer Dorfgemeinschaft ein ebenso geachteter Mann wie Vater. Er wird meine Schwester sehr glücklich machen. Wie Mutter mir kürzlich schrieb, haben die beiden mittlerweile gesunden Nachwuchs bekommen, dem Einhard voller Stolz nach der bestandenen Ersten Prüfung im erstrahlenden Antlitz Fregos den Namen Kylan gab. Ich wünsche mir, dass er zum Wohle des Rudels heranwachsen und seinen Eltern nur Freude bereiten möge. Er ist laut meiner Mutter ein munterer Welpe, und Tranq muss ständig ein Auge auf ihn haben, das liegt bei uns im Blut. Aber ich schweife ab…

Meine älteren Brüder haben sich eher der Kampfkunst verschrieben, Ragnar im magischen, Hildebrandt im mundanen Bereich, und Gerolf ist ein guter Taktiker, dessen Rat gern gehört wird. Alle drei sind sie ordentliche Kämpfer, geschult im Umgang mit diversen Waffen, und gute Männer. Meine Schwestern haben beide ihre Aufgabe in den Büchern und der Lehre gefunden, Fehild bringt den Kleinsten in der Runskol Lesen und Schreiben bei, Runa gibt weiter, was sie über die Flora und Fauna unseres Landes weiß.

Dankrad ist ein Mann der Wissenschaft, ein Runmerer ebenso wie Vater, bewandert in den arkanen Künsten, fähig, den Fluss des Blutes zu erkennen und zu spüren und seine Kraft zu leiten, und interessiert an der Macht des Wortes. Ebenso ist er leidlich geschult im Umgang mit Waffen, und er scheut sich nicht, ein Geplänkel mit dem Stahl zu beenden.

Es gibt verschiedene Gründe, warum ich gerade zu ihm ein besonders enges Verhältnis habe… vermutlich sind sie mir gar nicht alle bewusst. Er hat jedenfalls nie meinen Freiheitsdrang in Frage gestellt, und ich hatte immer Verständnis dafür, dass ihm das geschriebene Wort oft näher war als viele Menschen… außerdem habe ich auch in seinen dunkelsten Stunden niemals Furcht vor ihm empfunden. Wobei ich heute sagen muss, dass ich hoffe, dass die Skraelinger niemals den vollen Zorn eines Runmerers werden kennenlernen müssen…

Ebenso wie klar war, dass der Ruf des Blutes einen Schatten über Dankrads Leben werfen würde, schien auch die Richtung, die mein Weg nehmen würde, vorgezeichnet, als ich anfangen konnte, meiner Mutter bei ihren täglichen Verrichtungen zu folgen. Vater erzählte mir Geschichten, alles, was er über die Wolfsgötter, ihre Abkömmlinge und die Traditionen und Mysterien unserer Heimat wusste. Ich lauschte und nahm alles in mich auf, um es zu bewahren und mit meinem Blut zu beschützen. Wer den Wolfsgöttern und den Traditionen spottet, muss mir die Stirn bieten, und ich schwöre, es wird nur einer von uns danach immer noch kämpfen können!

Meine Eltern behandelten alle ihre Kinder so, wie Asken es tun sollten: Schon in sehr jungem Alter wurden unsere Neigungen beobachtet und nach Kräften von ihnen gefördert. Im Blut meiner älteren Brüder ist Fregos Ruf so stark, dass mein Vater ihre Ausbildung schon früh aus der Hand gab. Ihr Bondvar entstammte einer langen Tradition von Kämpfern, er war ein Kinsmann aus Fregos Bondkin, und ich weiß, dass sie ihre Klingen schwingen werden, bis sie brechen, um die Asken vor dem Schrecken zu beschützen. Sie sind aufrechte Männer, die nichts fürchten.

Ich hatte schon als Kind Interesse an den Tätigkeiten meiner Mutter, außerdem scheine ich eine natürliche Begabung für den Umgang mit Menschen zu haben. Ich bekomme leicht Zugang und höre gern zu. Schon als ich noch sehr jung war, suchten die Leute das Gespräch mit mir und hörten auf meinen Rat.

Als Iduskin hatte meine Mutter sich der Medizin zugewandt, sie verstand sich auf das Erkennen von Krankheiten und wie man sie kuriert, hatte Wissen über die Anatomie des menschlichen Körpers und interessierte sich für den Seelenzustand der Hilfesuchenden. Mir vermittelte sie, was sie wusste, erklärte mir die Wirkung diverser Kräuter, wie man daraus Medizin gewinnen kann, wie man Wunden versorgt, Brüche schient und was einem Menschen sonst so zustoßen kann.

Als Schwester von vier Brüdern kam allerdings auch meine kämpferische Ausbildung nicht zu kurz, ich würde zwar gegen einen Herikungar nicht bestehen, aber ich weiß mich meiner Haut zu wehren. Gelegentlich spielt mein Temperament mir einen Streich… jedenfalls habe ich schon öfter als einmal Wunden versorgt, an deren Entstehung ich nicht unbeteiligt war.

In dem Haushalt, in dem ich aufgewachsen bin, ging es oftmals sehr lebhaft zu. Es kamen immer viele Asken, um Mutter oder Vater zu sehen: Runmerer von der gesamten Hoegerklov kamen, um sich mit Brynjar zu beraten, Forschungsergebnisse auszutauschen, die Fortschritte des Nachwuchses zu begutachten; Sunna empfing Patienten und Personen, die ihren Rat wollten, oder Nachbarinnen, die auf ein Schwätzchen hereinschauten. Wir Kinder liefen vorne ins Haus hinein und hinten wieder hinaus, brachten Spielkameraden mit, im Labor explodierte ein Versuchsaufbau oder ein kleiner Feuerball flog aus dem Studierzimmer. Man hörte Stimmen sich nähern und wieder entfernen… und beim gemeinsamen Abendessen erzählte jeder, was er den Tag über außerhalb des Langhauses erlebt hatte, im Dorf oder auf einem der umliegenden Gehöfte, je nachdem, wo er Dinge zu erledigen gehabt hatte.

Inmitten dieser Atmosphäre wuchs ich also auf, und ich habe es immer als Bereicherung empfunden, diese vielen Stimmen um mich zu haben, aber gelegentlich war ich äußerst dankbar, dass ich wenigstens die Stalltür hinter mir schließen konnte, um ein wenig Ruhe zu haben und vor mich hin träumen zu können. Auch die Wege zu den entlegeneren Gehöften und Hütten, die ich anfangs mit  Mutter zusammen und später auch allein bestritt, waren mir immer eine willkommene Abwechslung. Und auch hierbei gab es immer etwas zu lernen, man kann gar nicht zuviel wissen.

Sowie man dazu in der Lage war, wurden wir im Haus zu unserem Alter und Interessen angemessenen Aufgaben und Arbeiten herangezogen. Daher merkten wir eigentlich gar nicht, wie früh unsere Ausbildung begann.

Im Frühling meines vierzehnten Jahres fand der erste große Einschnitt in meinem Leben statt: Ich unterzog mich der Zweiten Prüfung, der Bloodprov, und ich war mir der Wichtigkeit dieses Ereignisses bewusst. Es würde sich zeigen, welchen Weg die Götter mir bestimmt hatten, und ob ich die Kraft und das Geschick haben würde, ihn zu gehen. Ich wusste, dass es um grundlegende Dinge ging, wie den Naturgewalten die Stirn zu bieten, mich in der Wildnis zurechtzufinden und Zähigkeit zu beweisen. Die Erste Prüfung, die Livprov, zeigt, ob das Blut eines Asken stark genug ist, die Zweite Prüfung beweist, dass er die Kraft gescheit einzusetzen vermag.

Vater brachte mich zu einem der Höfe in den Peripherien unserer Region, mit leichtem Gepäck und guter Ausrüstung etwa vier stramme Tagesmärsche von unserem Zuhause in Svartaskheim entfernt. Ich würde den Rückweg allein bestreiten, die bequeme Straße meiden und mich quer durch den Wald schlagen, möglichst niemand begegnen und so wahrscheinlich eine knappe Woche benötigen.

Rutger Wasmutson betrachtete es als Ehre, dass Brynjar sein Haus als Ausgangspunkt für die Prüfung und den Weg seiner ältesten Tochter ausgewählt hatte, und bedankte sich überschwänglich, als er es uns zur Verfügung stellte, damit die traditionellen Worte gesprochen werden konnten. Trotz des Dutzends anwesender Personen herrschte andächtige Stille. „Bist Du bereit?“ fragte Vater. „Ich bin bereit!“ erwiderte ich. „Was hast Du Dir als Begleiter erwählt?“ war die nächste Frage. Ich antwortete mit möglichst fester Stimme: „Ein Messer, Feuereisen und Zunder- und mein Notizbuch…“. Ein Lächeln huschte über Vaters Gesicht. Die vorgesehenen Gegenstände waren eigentlich nur die beiden ersten, ich wusste das, und er wusste, dass mir das klar war, aber seit ich schreiben konnte, half es mir, meine Gedanken vor mir auf Papier zu bannen, um sie zu ordnen. Sicher würde das in der vor mir liegenden Woche nicht schaden. Die Menschen neigen dazu, in der Einsamkeit am ehesten sich selbst zu begegnen- und viele kommen dann ganz schön ins Grübeln...

Dann kam die dritte und letzte Frage: „Wirst Du gehen- und wirst Du zurückkommen und Deiner Familie zur Ehre gereichen?“. Ich sah meinem Vater fest in die Augen, die die Welt meist mit einer freundlichen Neugier betrachteten: „Das will ich, Vater!“. Danach legte ich, wie die Tradition es gebot, sämtliche andere Werkzeuge und ähnliches ab, das ich bei mir trug. Was erlaubt war, verstaute ich in meiner Umhängetasche. Dann wandte ich mich zum Gehen. Vater schloss mich noch kurz in seine Arme und strich durch mein Haar. Er flüsterte mir zu: „Ich weiß, dass Du uns Freude machen wirst. Und die Einsamkeit, die die größte Herausforderung für die meisten ist, wird Dir keine Schwierigkeiten bereiten… wenn Du heimkommst, werden wir feiern!“. „Möge Tranq Deine Schritte leiten und Dich sicher nach Hause führen!“ rief mir der Hausherr zum Abschied nach, was ich mit einem zuversichtlichen „Heder og vigor!“ erwiderte. Dann trat ich hinaus und ging über die Lichtung Richtung Wald.

Mit Blick gen Himmel hoffte ich nur, dass Frego während der nächsten Tage über mir lächeln würde, bei Dauerregen würden einige Tage draußen gewiss kein angenehmes Erlebnis… aufgrund meiner bisherigen Erfahrungen rechnete ich nicht mit einem großen Abenteuer, und die Woche sollte auch ziemlich ereignislos verlaufen. Frisches Wasser zu finden war kein Problem, wie man Fallen stellt und kleine Beute erlegt, hatte ich schon als Kind gelernt, ich würde ein mäßiges Tempo anschlagen und mit möglichst wenig auskommen. Solange ich mir keine Verletzung zuzog, würde Tranq mir schon den Weg weisen. Und ich spürte nicht nur seine Anwesenheit… aber von diesen Dingen werde ich hier nicht berichten, niemand außer Dankrad hat bisher davon erfahren. Als schließlich Svartaskheim wieder in Sichtweite kam, stand sogar mir der Sinn nach viel lauter Gesellschaft und Geschichten. Zum ersten Mal empfand ich mit jeder Faser meines Körpers, bis ins Mark meiner Knochen und mit jedem Blutstropfen, wie weise die Götter sind, dass sie uns als Gemeinschaft, als Rudel, erschufen. Jeder muss für sich allein überleben können, aber das alles hat nur einen Wert, wenn wir es teilen können, mit denen, die wir lieben. Einzeln jagen wir, um unser pures Überleben zu gewährleisten, aber das wäre ein elendes Leben. Als Rudel jedoch sind wir stark, stark genug, um uns größeren Herausforderungen zu stellen. Die Götterwölfe wollen, dass wir unseren Platz im Rudel finden und ihn ausfüllen. Von diesem Gefühl erfüllt schloss ich meine Lieben wieder in die Arme.

Einige Wochen nach meiner Rückkehr erschien ein Mann in unserem Haus, den ich zuvor noch nie gesehen hatte. Aus Svartaskheim stammte er nicht, auch nicht aus der näheren Umgebung, ich kenne bis heute jeden Asken, der in dieser Gegend lebt. Er hatte etwa 50 Winter gesehen und war groß, mit grauen Schläfen, eine sehr angenehme Erscheinung, mit lebhaften, forschenden Augen. Er verschwand zunächst mit Vater im Studierzimmer, und als beide nach etwa einer Stunde wieder herauskamen, wurde der Fremde von Mutter, die gerade zurückkam, stürmisch begrüßt. Dann riefen sie nach mir.

Der Name des Gastes war Nantwin Ingolfson. Und wie ich schon vermutet hatte, er sollte mein Bondvar sein. Später erfuhr ich, dass er der jüngste Sohn der Iduskin war, die meine Mutter ausgebildet hatte. Die Familie freute sich sehr, mich für einige Jahre bei sich aufzunehmen. Schon wenige Wochen nach dieser ersten Begegnung ging die Reise los. Damit begann mein nächster, aufregender Lebensabschnitt, der mit der Dritten Prüfung enden würde.

Nantwin lebte mit seiner Familie ein stückweit entfernt an der Küste, in der Nähe von Daal, wo die berühmten Bloodstins abgebaut werden, und wo einige Menschen noch Traditionen folgen, die noch aus der Zeit vor dem Flokkfred stammen, vor dem die Menschen sich nicht bewusst waren, dass wir einzig als Rudel gemeinsam leben und dem Schrecken trotzen können.

So aber bekam ich Gelegenheit, die Leute nicht nur wie bisher zur Jagd und zur Feldarbeit sondern auch zum Fischen zu begleiten. Zweimal gab es sogar bewaffnete Auseinandersetzungen mit einigen Skrekks, so dass ich nicht nur mit Verletzungen, die durch Arbeitsgerät entstanden, in Berührung kam, sondern auch mit solchen, die von Waffen verursacht wurden. Anlässlich dieser Zwischenfälle setzte ich auch ihre eigenen Waffenübungen intensiv fort.

Ansonsten bestand mein Leben aus den größeren und kleineren Wehwehchen meiner Kinsleute, Salben, Kräutern, Tinkturen, Verbänden etc. Ich genoss diese ruhige Zeit, irgendwie fühlte ich mich hier, direkt am Wasser, den Elementen besonders nahe. Aber auch meine Neugier auf den Horizont wuchs.

Die Tage verstrichen, bis ich fast 20 Winter gesehen hatte. Am Ende eines Tages, der nur allzu deutlich gezeigt hatte, wie nah die Alte und die Neue Welt beieinander liegen, kam ich nach Hause, um Nantwin am Tisch neben dem Herd sitzend vorzufinden. Er saß im Halbdunkel, einen Krug und zwei Becher vor sich. „Setz Dich, Tyra, und sag mir, warst Du zufrieden?“

Ich atmete tief durch und ließ den Tag Revue passieren. Er hatte noch vorm Morgengrauen damit begonnen, dass ich den ersten Welpen einer recht jungen Frau auf die Welt geholt hatte, der dann von seinem stolzen Vater nach seiner Ersten Prüfung seinen Namen in Fregos Angesicht erhalten hatte. Am späten Nachmittag wurde ich dann zu dem alten Uden unweit von Daal gerufen. Seine Frau war betrübt aber gefasst, und wir saßen bei ihm, bis mit der Dämmerung auch seine Zeit gekommen war. Wir hoben eine Phiole seines Blutes auf, da es wohl einige Tage dauern würde, die Kinder der beiden von der Hoggtann anreisen zu lassen. Ein Nachbar ging uns zur Hand, den Mann in den Wald zu seinem Lieblingsplatz zu schaffen. Dort nahm ich das Apning samt Blodelv vor, und ich bin mir sicher, dass er in Ambrus’ leeren Augen nichts weiter als sein Spiegelbild gesehen hat.

Während wir sein Blut in die Alte Welt fließen ließen, sprach ich die traditionellen Worte:

„Ambrus’ Stunde bricht an! Die Götter haben es Ger bestimmt, heute seinen Weg in die Alte Welt anzutreten. Möge Idu ihm die Richtung weisen und Ambrus ihn empfangen.

Mit Tranqs Hilfe wird er sich der Letzten Prüfung unterziehen, um im Rudel der Götterwölfe Seite an Seite mit den Seinen den Schrecken zu bekämpfen. Er wird die wiederzusehen, die vorausgingen!

Uns wird er dort erwarten. Heder og vigor!“

Ein junges Leben in der Neuen Welt, ein altes, das seinen Platz im Urrudel eingenommen hatte. Und ich war völlig ruhig, in dem Bewusstsein, dass alles seinen Platz und seine Daseinsberechtigung hatte.

„Ja“ sagte ich und nahm einen Schluck aus dem Becher. Mein Lieblingsmet. „Ja, Bondvar, ich bin zufrieden. Die Dinge sind, wie sie sein sollen, und ich bin ein Teil davon.“

„Du hast wohl getan, wie meistens, mein Kind. Und ich glaube, dass Du gut genug vorbereitet bist, um Deinen Weg fortzusetzen- ich kann Dir nichts mehr beibringen. Von Deiner Mutter hast Du auch gelernt, was sie Dir geben konnte. Du bist gut gewappnet, dem entgegenzutreten, was das Leben Dich lehren will!“. Ein Schauer lief über meinen Rücken. Sollte dies tatsächlich der Moment sein? Dann sprach er die feierlichen Worte: „Beim Blute Idus, hiermit spreche ich Dich los! Möge die Welt keine anderen Grenzen für Dich haben als Deine eigenen- und mögen Dir nie die Fragen ausgehen, mein Kind.“.

Nach einem tränenreichen Abschied trat ich einige Tage später meine Reise nach Svartaskheim an.

Die nächsten Jahre verbrachte ich daheim, erfüllte meine Aufgaben, studierte und lebte mein Leben. Ich war frei zu gehen, wohin ich wollte, daher konnte ich bleiben, wo ich war.  

Dann kam der Abend, an dem Vater nach dem Essen in Ruhe mit mir sprechen wollte. Dankrad brütete über einem Buch, das er seit Tagen mit sich herumschleppte, und in das er in jeder freien Minute seine Nase steckte. Schon an Vaters feierlichem Gesicht konnte ich erkennen, dass seine Mitteilung mich vermutlich nicht sonderlich erbauen würde. Als er jedoch verkündete, Gerwin Björnson habe ihn meinetwegen gefordert, brach ich zunächst in lautes Gelächter aus. Der Mann war der Iduske im nächstgelegenen größeren Ort, er unterrichtete an der Runskol, und seine Lieblingsbeschäftigung war es, sich selbst reden zu hören. Ein Blick in Vaters Augen ließ mich jedoch verstummen. „Vater, das ist nicht Dein Ernst. Meinetwegen schlag Dich mit ihm, aber bitte wähle Waffen mit scharfen Kanten! Oder lass Dankrad das machen, der kann ihn ebenso wenig ertragen wie ich. Und glaub mir, sein Blut wird meins nicht berühren!“. Aber das Gespräch war noch nicht beendet. „Tyra, Kind, sei doch nicht so halsstarrig! Er ist kein schlechter Mann. Sein Wort hat Gewicht in der Bondkin. Und außerdem… bei Deinem Temperament… “. Ich fauchte ihn an: „Vater! Und wenn ich ihn selbst verprügeln muss… ich komme auch ohne Blodlav aus, und wenn es sein muss, nehme ich mein Recht auf Bedenkzeit wahr. Dieser Wicht soll sich nicht einbilden, dass er sein Blut mit dem einer angesehenen Familie verbinden kann, nur weil ich etwas… schwierig sein kann… Kein Mal, dass ich dort war, habe ich ihn wirklich irgendetwas tun sehen. Einen Mann, der nur schwätzt, kann ich nicht gebrauchen, der hält mich nur auf. Ich möchte niemals wieder in die Lage kommen, jemand vom Hof jagen zu müssen…“ Beim Verlassen des Zimmers spürte ich die dünne, weiße Narbe in meiner linken Handfläche heftig pulsieren. „Aber ich habe ihn für morgen eingeladen!“ hörte ich Vater hinter mir rufen. Tief im Innern dauerte es mich, ich schlage Vater ungern etwas ab, und meine Ruppigkeit tat mir herzlich leid. Dieses Thema brachte einfach mein Blut in Wallung… wenn ich mich jemals noch mal der Vierten Prüfung unterziehen sollte, werde ich gewiss nicht diesen Kerl auswählen!

Aber kaum, dass ich in Dankrads Zimmer gepoltert war, um ihm zu berichten, hörte ich, wie es heftig an der Tür pochte. Ich hörte, wie Vater nachschauen ging, wer es war, und als ich die Stimme eines Mannes vernahm, dachte ich schon, dass Gerwin sich jetzt schon seine Tracht Prügel abholen wollte. Ich war gerade in der richtigen Stimmung…  Als ich aber wieder am Fuß der Treppe ankam, wurde der Gast soeben hereingebeten, und es war ein Fremder in robuster Kleidung, noch recht jung, in einem schweren Lederpanzer, wie ihn Fregoten gern tragen. Mein Interesse war sofort geweckt. „Gut, Tyra, bitte hol Dankrad, und bring auch etwas zu trinken mit. Dies ist Hakon“- er zeigte auf den jungen Mann- „und er hat ein Anliegen, über das Ihr zwei aber selbst entscheiden müsst. Ich könnte mir aber vorstellen, dass Du gleich noch packen möchtest. Ich glaube, Du wirst weiter reisen, als irgendjemand sonst aus dieser Familie…“ sagte er zwinkernd.

Und so begann der Weg, der mich bis hierher geführt hat, Südländer. Die Außenwelt ist ein merkwürdiger Ort, der mich immer wieder aufs Neue überrascht. Mit jedem Land, das ich bereise, wächst die Liste an unglaublichen Ereignissen, denen ich beiwohne, und ich möchte noch viel sehen, bevor ich endgültig in meine Heimat zurückkehre. Gemeinsam werden wir dann hoffentlich viel Blut Vulturs vom Antlitz dieser Welt getilgt haben. In den Jahren, die folgen werden, werde ich meine Erlebnisse ausführlich niederschreiben und mit vielen anderen Asken teilen. Und der Rat wird darüber befinden, wie unser Verhältnis zur Außenwelt in der Zukunft aussehen wird. Wenn Tranq meinen Schritt in die Alte Welt leitet, auf dass ich die Letzte Prüfung bestehen möge, werde ich viele ungewöhnliche Dinge gelernt haben, die dem Rudel beim Kampf gegen den Schrecken nützlich sein werden. Ich erwarte diesen Tag mit Stolz im Blick und Mut im Herzen, ich vertraue dem Stahl und werde Ambrus offen in die Augen schauen.

 

For den Ulfgodderen og den Flokk!

 
 
   
 
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